Samstag, 5. Juni 2010

Zeitreise

Man bekommt als Tourist ja so einiges zu sehen - auch Matheran steht in unserem Reiseführer. Aber die letzten zwei Tage waren wirklich besonders. Ich werde Versuchen, den Berg an neuen Eindrücken für euch in diesen Blog zu zwängen.
Das ganze mit meinem neuen Handy-Internet (Modemgeschwindigkeit, aber immerhin geht es endlich), das Internet auf dem Campus ist ausgefallen und soll angeblich erst am Montag wieder gehen. Irgendein größeres Problem...

Diesmal ging es Donnerstag morgens schon um 4:00 Uhr los, um diese Zeit sind Rikschas auf dem Campus schwer zu finden, wir müssen fast eine viertel Stunde laufen bevor es dann motorisiert bis zur Borivali Train Station geht, dem nächsten Fernbahnhof von hier aus. Wir haben mit viel Glück noch zwei Sitzplätze reservieren können, die Züge hier wie immer heillos überfüllt. Eine gute (klimatisierte) Klasse war auch nicht mehr verfügbar, also sitzen wir im Warmen. Natürlich nicht nebeneinander, und der Wagen wird noch richtig voll, irgendwann gibt es auch keine Stehplätze mehr. Die Fahrt dauert 4 Stunden, ich schlafe. Arne hat die Augen nicht ganz so schnell zu und muss sich den vielen Fragen der umstehenden Inder stellen. Muha


Schließlich kommen wir ohne große Vorkommnisse in Surat an. Natürlich werden wir abgeholt. Oder eben auch nicht. Unser Freund Harry verspätet sich eine halbe Stunde. Wir haben solange Zeit, uns den schönen Bahnhof anzusehen.


Ich mag die saubere und wohnliche Atmosphäre von indischen Bahnhöfen. Zwischen den Gleisen steht ein Gewässer, Müll wirft hier jeder einfach auf den Boden. Aus dem Zugfenster sowieso.
Harry kommt mit seinem Bruder, der leider kein Englisch spricht - auf dieser Tour wäre Hindi tatsächlich sehr praktisch gewesen.
Die bettelnden Kinder am Bahnhof schütteln wir ab, indem wir uns in Harrys Auto flüchten - ein klimatisierter nagelneuer Tata (kein Nano, irgendein hübsches Modell) und uns schnurstracks auf den Weg machen. Surat ist mit 3 Millionen Einwohnern nur eine kleine Stadt, wir sind deshalb schnell draußen und auf der Landstraße unterwegs. An einer unscheinbaren Stelle zweigt ein unbeschilderter, immerhin geteerter Weg nach rechts ab. Ein paar Kilometer auf der einspurigen Straße, ein paar Hügel hoch und runter, und schon sind wir bei Harrys Feldern.


Sein Bruder (hier neben Arne) bleibt bei den Arbeitern und hilft Gemüse zu sortieren, wir bekommen währenddessen eine Tour durch die Plantage.


Harry (Mitte) führt uns.


Hier läuft die Ware nicht vom Band usw. Die Arbeiter freuen sich alle, uns zu sehen. Überhaupt sind wir die große Attraktion des Jahres: Es ist angeblich mehr als 5 Jahre her, dass zuletzt Ausländer im Dorf zu Besuch waren. Wir bekommen frische Bananen (wirklich an der Palme gereift :-) ) und frische Mangos. Wahnsinn, das toppt alles.

Hier wächst irgendein längliches, bohnenähnliches Gemüse. Harry kennt den englischen Namen nicht, und ich habe das Zeug noch nie gesehen.

Zum Erfrischen holt Harry Wasser aus dem Brunnen, das ist sogar kalt! Kleine Dusche für die Füße, dann gehts weiter durch die Bananenplantage. Die Felder werden alle automatisch mit Wasser aus dem Kanal tröpfchenbewässert, hier hat moderne Technik bereits Einzug gehalten und der Brunnen ist nicht mehr so wichtig wie früher. Jeder freut sich auf den Monsun: Die Wasserrechnungen in den trockenen Monaten sind für die Farmer natürlich ein Problem.


Wir sehen selbstverständlich auch Harrys Haus, seine Frau, seine Kinder, seine Nachbarn, die Nachbarskinder, die Freunde, den Dorfprediger, den Polizisten, den Dorfältesten, deren Kinder, Kindeskinder und Ahnen, Freunde und alle anderen auch. Wir bekommen überall Tee angeboten. Die Rollenverteilung ist noch sehr traditionell: Wir sitzen mit den Männern, männlichen Jugendlichen und kleinen Jungen redend auf dem Sofa, während die Frauen servieren und die benutzten Becher auf Tabletts heraustragen. Harry wollte uns etwas Gutes tun und hat extra für uns eiskalte Cola gekauft, für die Leute vor Ort ist das eigentlich zu teuer. Ablehnen geht natürlich nicht (wir haben es probiert!), also trinken Arne und ich als einzige andauernd Cola, während wir eigentlich auch ganz gerne Wasser hätten...


Die Dorfschule.
Einige von den Jungs können tatsächlich recht gut englisch. Als Deutsche werden wir als erstes nach Adolf Hitler gefragt, der Dorflehrer hat die Geschichte Europas nicht ganz richtig verstanden und ihn als bewundernswerten Mann dargestellt, der sich vom einfachen Arbeiter zum Staatsoberhaupt hochgearbeitet hat. Die Kinder sind begeistert von ihm und sehen ihn als großes Vorbild. Dass er mehrere millionen Menschen umgebracht hat? Naja, das wäre eben Krieg gewesen. Aha.
Wir sehen außerdem haufenweise Hochzeitsfotos: Ganze Fotoalben werden uns vorgelegt. Beim Ersten ist es tatsächlich sehr interessant: indische Hochzeiten sind sehr schön bunt. Irgendwann blättern wir höflich nur noch immer weiter, zum Schluss sehen wir noch die Beerdigungsfotos von einem Opa von irgendwem (die genauso bunt sind).


Wir besteigen auch den Wasserturm, von da oben hat man einen super Überblick über das Dorf. Oben versammelt sich das halbe Dorf mit uns, wir essen Mangos. Ziemlich gut.

Anschließend nimmt Harry uns auf eine weitere kleine Tour durch die Felder, ein anderer Bruder von ihm kommt ebenfalls mit, er spricht gut englisch.


Wir essen alles: Lustige klebrige Beeren, andere lustige Früchte, Gurken und Zuckerrohr. Letzteres ist beim Reinbeißen sehr holzig, aber wenn man drauf rumkaut schmeckt es tatsächlich angenehm süß und ist sehr saftig.

Sieht fast aus wie in Europa. Nur dass links und rechts kein Mais wächst, sondern Zuckerrohr.


Nur den Chilli, den essen wir nicht pur.

Der Abend geht weiter mit einer Tour auf dem Traktor, die an einer Raststätte an der Landstraße endet. Durch die warme, saubere Abendluft hoch auf dem Traktor fahren, Wind im Gesicht. Fühlt sich an wie Urlaub. Arne und ich haben auf einmal wieder eine Cola in der Hand. Ein Lastwagenfahrer möchte uns noch das Innere seiner Fahrerkabine zeigen, welches er sich sehr schön mit bunten Teppichen hergerichtet hat. Nett. Auch auf dem Rückweg halten alle Motorradfahrer, die uns überholen, an um mit uns zu reden. Harry ist der Held des ganzen Dorfes: Er hat Ausländer vorbeigebracht. Fast alle bieten uns einen Platz auf ihrem Motorrad an, hohe Gäste auf einem Traktor sind wohl nicht ganz standesgemäß. Aber wir bleiben wo wir sind.
Danach: Abendessen zu Hause.
Harrys Frau hat extra für uns Hühnchen gemacht. Nur Harry und uns wird diese Ehre zuteil, alle anderen essen vegetarisch. Am nächsten Tag weiß das ganze Dorf, dass wir Hühnchen hatten. Fleisch isst man hier wohl wirklich nie. Es ist mir fast ein bisschen unangenehm, dass die Leute sich für uns so sehr in Aufwand und Unkosten stürzen.

Abends schauen wir noch beim Cricketground des Dorfes vorbei, hier wird jeden Abend gespielt. Cricket ist in Indien der Sport schlechthin, man ist hier immer etwas enttäuscht dass wir Cricket weder spielen können, noch indische Spieler oder wenigstens die Regeln kennen. Lauter Bildungslücken. Wir trinken am Spielfeld noch etwas (diesmal können wir Harry wenigstens überreden, uns Wasser zu kaufen; eigentlich brauchen wir gar nichts. Aber komplett Ablehnen endet immer in noch einer Flasche Cola, ich bekomme ein schlechtes Gewissen...). Die leeren Getränkekartons wirft man auch hier auf dem Land einfach auf den Boden. Sogar auf dem Sportplatz. Was die Müllentsorgung angeht können die Inder wirklich noch etwas dazulernen.

Auf dem Rückweg schauen wir noch bei ganz vielen Leuten zu Hause vorbei, sehen lauter Wohn- und Schlafzimmer, bis wir schließlich bei Harry ankommen und zu Bett gehen können.


Das Haus (hier ein Foto vom Tag) besteht aus zwei großen Räumen, bei uns im Zimmer schlafen auch die Kinder und Harry. Außer uns schlafen alle auf dem Boden, wir bekommen das einzige Bett. Harry liegt am Fußende unseres Bettes, als ich nachts anfange meine Füße zuzudecken springt er sofort auf und hilft mir mit der Decke. Wie Könige werden wir behandelt.

Am nächsten Morgen ein kurzes, einfaches Frühstück. Wir haben Harry lang und breit erklärt, dass wir gerne zum Frühstück sehen würden, was hier jeden Tag morgens aufgetischt wird. Zuerst bietet uns Harry an, zweimal zu Frühstücken: Einmal einfach, und dann für uns nochmal richtig.


Aber irgendwie klappt es dann nach einigem Hin und Her doch: Wir bekommen das normale Frühstück. Sehr leckeres Brot, dazu der gute Tee. Einfach und lecker.


Dann das Highlight: Wir haben Harry gesagt, dass wir nicht so gerne schwimmen möchten, und er hat stattdessen seinen Cousin gebeten, uns auf eine kleine Tour mit dem Ochsenkarren mitzunehmen. Yeeeeha. Wahrscheinlich sind wir die ersten Hückelheims seit drei Generationen, die auf so etwas sitzen, zu Omas Zeiten sind die ja schon langsam verschwunden aus Europa...


Die Fahrt ist unbeschreiblich holprig, aber ein tolles Erlebnis. Die Ochsen sind sogar zeitweise relativ zügig unterwegs. Die Kinder an Bord freuen sich auch, dass sie mitfahren dürfen. Und wieder bieten uns alle Vorbeikommer an, auf ihren Motorrädern mitzufahren. Weiße Menschen auf einem Ochsenkarren? Das geht ja gar nicht!


Kurze Pause für die Ochsen: Unser Fahrer zeigt uns auch noch kurz seine eigenen Felder.
Ein netter Herr, der uns als reichster Mann des Dorfes vorgestellt wird, bietet uns schließlich eine Fahrt in seinem Volkswagen an.

Wir lehnen dankend ab, denn der Ausblick vom Karren ist viel interessanter. Der VW-Besitzer ist ein bisschen enttäuscht als wir mit Harrys Cousin und den Kindern weiterzuckeln. Die Kinder freuen sich. Und Harrys Cousin lächelt auch mit etwas Genugtuung. Wir verstehen uns, auch wenn wir keine gemeinsame Sprache sprechen.

Danach gibts noch eine kleine Runde durch das Dorf.

Vor fast jedem Haus hängt eine selbstgezimmerte Schaukel mit vielen Leuten drin, alle Hausbesitzer wollen uns ihre Zimmer zeigen. Einer ist ganz besonders stolz: Er hat in seinem Haus ein klimatisiertes Zimmer!
Und es gibt noch mehr Hochzeitsfotos.


Mittagessen, diesmal auch in normal: Exquisite Gemüsepfanne, toll gewürzt, mit zwei verschiedenen Sorten Brot und Mangopüree. Mjam.

Schließlich ist es Zeit zu gehen, wir verabschieden uns wortreich von ganz vielen Leuten, müssen aber vorher noch versprechen, auch unsere Hochzeitsfotos (sobald es denn welche gibt) per Post zu schicken. Wir werden sehen ;-)

Außerdem möchte Kishan unbedingt nach Europa zum Studieren. Man hätte so gerne, dass wir ihm dabei helfen, wenn er in fünf Jahren mit der Schule fertig ist. Wir haben nichts versprochen (wie auch...), das fühlt sich ein bisschen komisch an. Wir sind wie reiche Außerirdische von einem anderen Stern, für den man nicht so leicht ein Visum bekommt.

Harry und sein Bruder mit dem schönen Auto bringen uns zurück nach Surat. Dieses Gemüse hier fährt auf dem Lastwagen in die gleiche Richtung.

Kamel auf der vierspurigen Autobahn. Man kennt das ja. Der Fahrer fährt ran als er uns sieht und ist froh, als wir ihm die Hand geben.

Harry und Bruder wollen sowieso zum Markt, um ihre Waren zu verkaufen. Wir kommen kurz mit und fahren danach mit der Rikscha zum Bahnhof.


Eine von vielen Mangoverkäuferinnen.
Der Markt ist eher für Großabnehmer, kaufen können wir hier nichts. Das Gelände ist riesig und es gibt die verschiedensten Sachen. Sogar Stinkfrüchte entdecken wir.

Die Fahrt im Zug ist wieder ein Fest für alle Sinne. Flüsse durch Slumgebiete sind unbeschreiblich widerlich. Die Oberfläche komplett mit Müll bedeckt, die Brühe darunter braun bis schwarz und stinkend. Entlang von Bahnstrecken zeigen sich Städte immer von der schönsten Seite... Im Zug mache ich aber noch ein gutes Geschäft. Eine Frau verkauft Mangos, ich sehe dass alle anderen Inder ebenfalls kaufen. Ich bitte meine Sitznachbarin (indische Hausfrau, gesetztes Alter) für mich ebenfalls ein paar gute Früchte herauszusuchen. Wir erstehen 10 große Mangos für zusammen 70 Rupien.

Zurück im IIT-Hostel treffen wir die ersten Europäer seit etwa einem Monat: zwei Franzosen aus Bordeaux, die seit gestern auf unserem Korridor wohnen. Zusammen mit ihnen essen wir ein paar von den Mangos, die tatsächlich sehr gut schmecken.

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