Am
Freitag hatten wir einen seltsamen Tagesablauf. Erst Vorlesung, dann Kino, dann wieder Vorlesung. Das ist hier relativ normal, man geht oft vormittags ins Kino. Es lief Inception (ziemlich gut eigentlich), und zwar ohne Unterbrechung in der Mitte (ganz normal eigentlich) und das Personal weist einen darauf mehrfach hin; es steht auch vor Beginn des Films auf der Leinwand: "Dieser Film läuft ohne Unterbrechung, kaufen sie vor Beginn genug Speisen und Getränke", als wären 2 Stunden eine unglaublich lange Zeit. Das Personal verfolgt einen bis auf den Platz, um einen mehrmals darauf hinzuweisen: Sir, es gibt keine Pause in diesem Film. Ziemlich nervig eigentlich.
Vor Beginn des Films läuft natürlich die Nationalhymne und alle stehen auf. Das ganze läuft auch als Musikvideo auf der Leinwand, die Sänger sind die Finalisten von Indian Idol (quasi DSDS).
Wie sich herausstellt, ist die seltsame Holzkonstruktion vor dem Hostel tatsächlich ein Dach. Wir erfahren, dass es vorher immer in der Mensaküche in die Töpfe getropft hat, die Küche befindet sich direkt unter dem Vorplatz, auf dem auch Kühe und Straßenhunde unterwegs sind und fröhlich ihre Geschäfte erledigen. Ich bin mir inzwischen sicher, dass ich nicht mehr in die Mensa will.
Das Dach soll das Problem auf jeden Fall lösen, bis nach der Monsunzeit dann jemand vielleicht Reparaturen in Angriff nimmt. Naja.
Abends nach der letzten Vorlesung fahren wir mit Sanmati zum Bahnhof; ein Regionalzug ist mit im Spiel. Es ist nicht Rush-Hour, man bekommt also einen Stehplatz. Trotzdem ist es mit Gepäck gar nicht so einfach, sich in den Zug zu drängeln. Sanmati hat viel Gepäck dabei, es ist immerhin sein Auszug aus dem IIT Hostel. Arne und ich tragen also auch Gepäckstücke von ihm mit. Es beginnt unsere bisher interessanteste Reise in Indien, ich kann Sanmati gar nicht dankbar genug dafür sein.
Die Tickets für den Fernzug hat Sanmati irgendwie auf indische Art und Weise ergaunert. Eigentlich war der Zug ausgebucht, aber irgendwie bekommt er noch drei Fahrkarten...
Wir haben also 3 schöne Liegen in der dritten Klasse (klimatisiert). Der Zug fährt 17 Stunden, über Nacht. Eigentlich nichtmal unbequem: Die klimatisierten Klassen haben natürlich Fensterscheiben, und netterweise dürfen auch die vielen fliegenden Händler und Bettler nicht herein, man kann also in Ruhe fahren und die Fenster halten überraschend viel Lärm draußen. Ich schlafe wie ein Stein.
Abteile gibt es nicht, aber viele viele Vorhänge. Die Liegen sind alle zu kurz für uns, aber wenn man eine der Oberen nimmt, kann man die Füße heraushängen lassen, ohne dass jemand beim Vorbeilaufen dagegenstößt.
Samstagvormittag fahren wir noch. Sanmati und ich stehen an der Tür: Die Aussicht ist gut und die klimatisierte Luft drinnen ist etwas trocken. Gut festhalten sollte man sich aber wohl...
In Indien fährt man Langstecken eigentlich immer ohne Umsteigen. Es gibt von jeder großen Stadt zu jeder anderen großen Stadt Direktzüge, die auf verschiedenen Strecken alle anderen Städte verbinden. Es gibt deshalb jeden Zug täglich nur einmal. Einerseits heißt das, dass man von überall nach überall mindestens einmal am Tag auch direkt und ohne Umsteigen fahren kann. Andererseits heißt das aber auch, dass es an viel benutzten Teilstrecken nicht mehr Züge gibt als an wenig gebrauchten. Unser Zug war ausgebucht, aber nur auf einer kurzen Teilstrecke voll. Meistens ist der ganze Wagen fast leer.
Gegen Mittag sind wir da. Etwas unscharf im Bild wartet eine Kuh auf ihre Fahrkarte.
Den restlichen Samstag verbringen wir mit Besichtigungen. Zusammen mit Sanmatis Vater und einem Teil seiner Familie fahren wir mit Autos ein paar von den Produktionsstätten ab, die ihnen gehören.
In einer Fabrikhalle wird von Maschinen Koriander per Sieb automatisch gereinigt und nach Qualität sortiert.
Hier im Bild ist ein Lager, was nicht direkt Sanmatis Vater, sondern nur einem Onkel gehört. Von der Sortiermaschine habe ich leider kein Bild gemacht, es war dunkel.
Dafür habe ich ein Foto von einem Steinbruch. So einen hat Sanmatis Papa auch.
Die Steine werden im eigenen Werk von Arbeitern zu Bodenfliesen verarbeitet. Der Mann an der großen Kreissäge in dem Häuschen ist sehr "erfahren": Er kann auch ohne Ohrschützer die Steine zerteilen, ohne dass ihm die Lautstärke weh tut. Interessant.
Geld scheint vorhanden zu sein. An dieser Stelle sollte ich anmerken, dass Arne und ich für die Reise nach Rajasthan nicht einen Cent bezahlt haben: Von den Zugtickets bis hin zu Restaurantbesuchen und Hotelübernachtungen hat Sanmati (oder sein Vater) alles bezahlt, das ist Teil der Gastfreundschaft und darüber ließ sich auch nicht verhandeln. Wenn Sanmati mit seiner zukünftigen Frau jemals nach Deutschland kommt, stehen wir da etwas in der Pflicht. Machen wir natürlich gerne.
Abends essen wir bei der Familie. Die Wohnung ist sehr bodenständig.
Das Haus ist im untersten Stockwerk ein Laden (der natürlich auch der Familie gehört). Arne versucht sich hier im Bild als Verkäufer.
Links der Papa. Innen ein typischer indischer Verkaufsladen. Es gibt alles. Der braune Batzen auf der Theke ist Rohrzucker, wir bekommen ein Stück zum Probieren. Den Ameisen schmeckt es auch gut.
Darüber wohnt die Familie. Der Platz um den Treppenaufgang ist gleichzeitig Küche (gespült wird auf dem Boden) und Durchgangsbereich zwischen Bad, Eingangstreppe und Wohnzimmer. Ich Esel habe kein Foto gemacht.
Im Wohnzimmer steht ein Doppelbett, in dem die Familie schläft, und auf dem Boden liegt ein Teppich, auf dem gemeinsam gegessen wird. Allerdings nicht so gemeinsam wie bei uns. Da beim Essen immer wieder frische Brote gereicht werden, essen die Hausfrauen nicht gleichzeitig mit den Männern.
Diese deutsche Eigenart, zusammen am Tisch zu sitzen, zu warten bis alle sitzen, sich unbedingt "guten Appetit" zu wünschen, und gemeinsam aufzustehen, scheint es hier nicht zu geben; auch in Restaurants kommen die Gerichte nicht immer gleichzeitig. Auch diese vielen Dinge wie, sich "Gesundheit" nach dem Niesen zuzurufen, sich unter Freunden immer mit einem "Tschüss" zu verabschieden, etc, all das habe ich in Indien noch nicht gesehen. Das nur so am Rande. Das Protokoll ist einfach ein Anderes.
Das Haus steht in Reihe mit einigen anderen Häusern. Foto vom Balkon. Ja, den gibt es auch.
Auf dem Familienbett. Die Gastfreundschaft ist überwältigend. Die Blumenkränze sind echt und riechen herrlich. Alle sind freundlich. Ich fühl mich gut.
Zwei Nichten hat Sanmati, die Ältere von beiden (so alt wie ich) studiert irgendwas in Richtung Ingenieurwesen, die Jüngere möchte auch studieren. Das ist in Indien nicht selbstverständlich, Frauen in Ingenieurberufen sind ja sogar bei uns selten. Verdammt modern, die Guten.
Es gibt haufenweise leckeres Essen. Die Familie folgt der Jain-Religion: es wird kein Fleisch gegessen, auch keine Eier, und kein Gemüse, bei dessen Ernte die Pflanze oder Tiere zu Schaden kommen, also z.B. keine Kartoffeln oder Zwiebeln. Die Eltern essen auch nicht so spät wie wir, denn nachts fliegen leicht Insekten in das Essen und würden dann auch sterben. Milchprodukte sind aber für fast niemanden in Indien ein Problem, von Buttermilch über Joghurt gibt es also auch hier alles. Alle Zutaten (bis auf wenige Gewürze) kommen von der eigenen Farm. Und der gute Tee ist auch von woanders.
Der typische indische Tee wird, so habe ich erst auf dieser Tour erfahren, nicht in Wasser, sondern in purer Milch gekocht. Wassertee wird hier als minderwertig betrachtet. Das Ganze wird immer mit vielen Gewürzen angereichert (das schmeckt man natürlich sofort), dafür verwendet allerdings keine Hausfrau, die etwas auf sich hält, eine fertige Gewürzmischung, sondern stellt die Gewürze jedes Mal aufs Neue nach dem Familienrezept zusammen.
Die Gastfreundschaft geht sehr weit. Da keines der Zimmer im Haus unseren Gastgebern angemessen schien, hat man uns im Gästehaus des Jain-Tempels im Dorf einquartiert. Als sehr religiöse Familie hat man gute Kontakte hierhin. Sanmatis Bruder mussten wir überreden, nicht bei uns im Zimmer zu übernachten: Er hätte gerne auf uns aufgepasst, falls wir nachts auf einmal noch irgendwelche Wünsche haben.
Das Zimmer ist klimatisiert, hat aber anstatt einer Dusche nur einen Wasserhahn auf Kniehöhe, unter den ich mich zum Waschen hocke. Die meisten Klos, die wir auf dieser Reise sehen, sind von der indischen Bauart, d.h. im Prinzip einfach ein Loch im Boden. An das Hocken und die Linke-Hand-Methode mit Wassereimer werde ich mich nie gewöhnen. Als gerüstete Urlauber haben wir zum Glück stets Klopapier dabei.
Sonntags bekommen wir eine kurze Tempelführung, bevor wir zum Frühstück wieder zur Familie fahren.
Es wird gerade gebaut.
Nach alter Manier arbeiten hier Steinmetze...
...und hauen Kunstvoll Figuren in die Steine.
Viele Jahre Arbeit, in Stein gehauen.
Sanmati wird bald heiraten, die Hochzeit ist im Frühjahr. Die Frau steht allerdings noch nicht fest. Die Familie ist wie gesagt sehr fortschrittlich: Jeder hat die Chance, sich zu verlieben, zumindest innerhalb der Kaste, und dann aus Liebe zu heiraten. Wenn das aber bis zu irgendeinem Alter (Sanmati ist 25) nicht klappt, wird eine Frau von der Familie ausgewählt. Das frisch verheiratete Paar wird in einem neuen Haus wohnen, welches zur Zeit gebaut wird. Wir fahren, um es zu besichtigen.
Kleines Schmankerl am Rande: Arne wurde beim Abschluss seiner Auslandsunfallversicherung für Indien gefragt, ob er vorhabe, in Indien Baustellen zu besichtigen, das sei nicht versichert. Natürlich haben wir das nicht vor. Warum sollten wir in Indien bitteschön Baustellen besichtigen?
Von außen lässt sich erahnen, dass hier ein Palast entstehen soll. Der Vorgarten wird einen Brunnen haben, es wird einen Gärtner geben.
Im Garten wird es einen Swimmingpool und Quartiere für die Bediensteten geben.
Marmorboden und viel Platz gibt es drinnen.
Das Dach wird schön verziert, aber wahrscheinlich nicht als Terasse genutzt werden. Es wird hier im Sommer sehr heiß.
So ähnlich könnte die Einladung für die Hochzeit aussehen. Von außen...
...und von innen. Schick.
Die Farm können wir auch noch besichtigen.
Arne hat einen Granatapfel gefunden.
Und einen Regenschauer erleben wir, der sich gewaschen hat. Die Kühe flüchten sich zu uns unter das Dach.
Die Stromleitung, die da so unscheinbar rumhängt, hat eine aufregende Geschichte hinter sich. In einem benachbarten Dorf haben die Bewohner jeden Stromausfall genutzt, um schnell die Kabel zu klauen. Sanmatis Papa ist ein guter Geschäftsmann und mag keine Lösungen, die mit Gewalt zu tun haben, und hat deshalb die (ehemaligen) Kabeldiebe als Wächter eingestellt, die jetzt aufpassen, dass die Leitung bleibt, wo sie hingehört.
Rückfahrt. Einige Straßen sind wirklich für Trecker gebaut gemacht.
Nach der Tour über die Felder wird es Zeit für Sanmati, sich schick zu machen und in Schale zu werfen. Denn heute ist der große Tag, an dem er seine womöglich zukünftige Frau zum ersten Mal sieht. Das läuft so ab:
Die Eltern haben nach verschiedenen Kriterien (Kaste, Bildungsgrad, Wirtschaftslage, gleiches Alter, gutes Aussehen) eine mögliche Frau ausgewählt, die mitsamt ihrer Familie zu einer Art Vorstellungsgespräch geladen wird. Wir dürfen dabei sein. Die Papas unterhalten sich, die Mamas, Schwestern und wer sonst noch so dabei ist auch, und Sanmati und die mögliche neue Frau sprechen auch miteinander. Das klingt alles sehr abgefahren.
Was nichts daran ändert, dass Sanmati ja genauso Mensch ist wie wir alle, und ich in der Situation genauso reagieren würde. Aufgeregt, angespannt, und was zum Teufel soll man mit einer Frau besprechen, wenn man wenige Minuten Zeit hat, zu entscheiden, ob man sie heiraten möchte? Mögliche Dinge, die ich sagen würde:
Und, wie gehts dir, hattet ihr eine gute Fahrt?
Ah, cool.
...
Ähm...
Wie heißt du eigentlich nochmal?
Ahja, genau. Ich erinnere mich.
Und was machst du so? Also, so arbeitstechnisch?
Ahja. Interessant.
Hmm.
Und, äh, was für Musik hörst du gerne?
Ahja, alles so ein bisschen. Jaja, geht mir auch so.
-Peinliche Stille-
Hm, joa, lass mal zu den anderen gehen, oder?
Richtig begeistert ist er natürlich nicht von der jungen Dame, der Funken konnte in der kurzen Zeit wohl noch nicht wirklich überspringen, Liebe auf den ersten Blick war von den Erfindern anders gedacht. Die Eltern von Sanmati finden ihren Vorschlag aber nach wie vor toll. Die Schwester nicht. Die endgültige Entscheidung wird in der Familie mehr oder weniger demokratisch entschieden, nachdem sich weitere mögliche Frauen vorstellen konnten. Unsere Meinung wurde auch erfragt. Tja, was soll ich sagen. Ganz nett war sie wohl, aber in der kurzen Zeit hat sie auch mich nicht vom Hocker reißen können. Welche Frau hätte das auch tun sollen?
Nachdem die andere Familie abgereist ist, zieht sich die Familie zur Besprechung für ein Weilchen zurück. Arne und ich werden wieder ins Gästehaus gebracht, das trifft sich gut, wir sind hundemüde. Im Tempel treffen wir einen spirituellen Menschen, quasi den Tempelheiligen. Wie wir erfahren, tragen spirituelle Jains (nicht die normalen Leute, nur Geistliche) entweder immer weiß und einen Atemschutz, der verhindert, dass Insekten u.ä. eingeatmet werden und dabei sterben, oder aber sie tragen niemals Kleidung. Der Mann, den wir treffen, gehört zur zweiten Gruppe, und sitzt nackt im Schneidersitz auf einem Holzmöbel, wo die Leute vor ihn treten, sich vor ihm verneigen und danach mit ihm sprechen können. Wir werden ihm auch vorgestellt, er erzählt uns von Jains in Deutschland und einigen Deutschen, die in Indien einen Jain-Tempel mitfinanziert haben.
Abendessen gibt es wieder bei der Familie, es ist wieder saugut und reichhaltig. Wir hatten Sanmati gebeten, bei der Mutter Alltagsessen zu bestellen, wir wollen das normale Familienleben sehen und keine abgefahrenen Sachen, die es sonst nie gibt. Interessanterweise schmecken viele Alltagssachen wieder sehr ähnlich wie alltägliche deutsche Gerichte. Die Kartoffelparathas schmecken ein bisschen wie sehr leckere Kartoffelpuffer, und zum Gemüse gibt es als Beilage kleine Gebäckkügelchen, die sehr an Roggenbrötchen erinnern. Vieles kennen wir im Prinzip schon aus der Mensa, aber es schmeckt doch ganz anders, wenn eine Hausfrau mit Liebe kocht. Wir essen, bis wir pappsatt sind. Und dann noch ein bisschen mehr. Mjam, lecker.
Der Montag wird anstrengend, aber höchst interessant und kulinarisch. Sanmati ist selbst ja auch nur für ein paar Tage zu Hause, und besucht wie immer so viele Mitglieder von seiner Familie, wie es geht. Viele Onkels, Tanten und was auch immer wohnen in den umliegenden Dörfern. Wir sind dabei.
Bevor es losgehen kann, muss aber erst noch ein anderes Auto organisiert werden, denn der Reifen ist platt. Das passiert bei den Straßen hier natürlich öfter. Wir überbrücken die Zeit, indem ich im benachbarten Klamottenladen kurz meine Mails lese. Wir wollen bald in Mumbai Besuch bekommen und es gibt noch etwas zu organisieren, dazu später mehr. Außerdem unterhalten wir uns in dem Laden noch mit dem Bürgermeister der Stadt, sehen uns danach die Urlaubsfotos des Ladenbesitzers an (er war im Himalaya bei irgendeinem Tempel), trinken noch einen Tee, Arne lässt sich neue (engere) Gürtellöcher stechen, kauft noch ein paar Sachen, die er glaubt, in Mumbai vergessen zu haben (und dann doch in seiner Reisetasche wiederfindet), und schon ist irgendein anderes Auto von irgendeinem netten Familienmitglied bereit, uns durch den Tag zu fahren. So eine funktionierende Familie ist was tolles.
Der Fahrer kutschiert uns den Tag über. Selbst fahren tut man nicht, Arbeit ist so wunderbar billig hier. Der gute Mann fährt schon seit Jahren für die Familie; er war vorher LKW-Fahrer, kann aber als Chauffeur nachts oft bei seiner Familie bleiben, und ist deshalb sehr glücklich über den Job, auch wenn er weniger verdient.
Sanmati betet vor dem Losfahren. Ich erlebe selten Menschen oder gar Familien, die es mit der Religion wirklich ernst meinen. Das hier ist so ein Fall. Auch wenn Sanmati von seinen zukünftigen Geschäftsplänen erzählt, habe ich den Eindruck, hier will jemand wirklich ein Leben mit Sinn führen. Guter Mann. Schade, dass wir nur ein paar Tage Zeit haben und ich die meiste Zeit vor lauter Eindrücken platt und müde bin. Über so viele wirklich wichtige Dinge hätte man miteinander reden können, so viele Dinge würde ich gerne auch aus einer (wirklich durchdachten) indischen Perspektive sehen... Vielleicht an einem anderen Tag, in einem anderen Jahr.
Bei Verwandten zu Besuch. Die Küche sieht der von Sanmatis Mama zumindest ähnlich. Die Hausfrauen halten sich im Hintergrund auf.
Auf einmal stehen wir wieder auf einer Baustelle. Hier entsteht noch ein neues Haus. Wir reden mit dem stolzen Bauherren über deutsche und indische Häuser. Ja, man baut hier weitläufiger, denn es gibt keine Heizkosten. Und nein, mir gefallen deutsche Häuser trotzdem besser. Aber das Letztere behalte ich für mich.
Es gibt den ganzen Tag über bei verschiedensten Leuten verschiedenstes Essen. Sanmati hat sich bemüht, die Essensmenge für uns erträglich klein zu halten und einen Teil der Verwandten zu überzeugen, nur Tee zu servieren. Das klappt ganz gut, wir essen zwar viel zu viel, aber können wenigstens alles probieren, was uns an den verschiedenen Stationen angeboten wird.
Wir tingeln von Haus zu Haus, die Kinder flippen völlig aus, alle sind fröhlich, alle kommunizieren mit uns (auf englisch oder einfach mit Händen und Füßen), wir verewigen und in einem Poesiealbum, überall fragt man uns, wann (nicht ob) wir wiederkommen, und überall ist es schön. Mir platzt der Kopf. Ich will schlafen, aber ich will nichts verpassen. Ich bin pappsatt, aber ich will nichts verpassen. Ich will nur kurz meine Ruhe haben, aber...
Zum Abschied bekommen wir einen roten Punkt auf die Stirn (bestehend aus roter Farbe, an der noch ein paar Reiskörner und Glitzerzeug festgepappt wird), und man schenkt uns eine Kokosnuss (herrlich) und eine Schatulle mit einer echten Münze aus massivem Silber, auf der indische Gottheiten und ein gutes Mantra eingeprägt sind (oha!). Sanmati bekommt das gleiche Geschenk, er ist ja auch zu Gast da. Ablehnen kommt natürlich überhaupt nicht in Frage, das Geschenk ist so für uns vorbereitet worden. Verdammt, seid ihr gastfreundlich. Das sind Maßstäbe, in denen die deutsche (oder überhaupt irgendeine europäische) Gastfreundschaft winzig klein zusammenschrumpft. Schenken wir unseren Gästen eigentlich überhaupt etwas zum Abschied? Einen Umschlag mit einem netten Abschiedsgruß und einem Geldschein wird uns (und auch Sanmati) zum Schluss noch zugesteckt.
An dieser Stelle geht mir mein Projektbetreuer (nennen wir ihn Herr A) aus Aachen durch den Kopf, der mich fragte, warum ich überhaupt zum Studium in ein Entwicklungsland fahren wolle, wo doch alle Menschen aus den Entwicklungsländern unbedingt nach Europa wollten.
Das wohlhabende Kind aus dem Traumland Europa besucht seine armen Freunde im Entwicklungsland, die unbedingt weg wollen? Nein, mein lieber Herr A, das sieht anders aus.
Zwischen den ganzen Familienstationen besuchen wir noch ein paar heilige Stätten. Ein Tempel ist dabei, zu dem viele Menschen von weit her zu Fuß gepilgert kommen. Ein paar Frauen sind auf dem Platz in der Mitte, die von Dämonen besessen sind und in wilden Verrenkungen schreien und klagen. Drumherum stehen Inder, klatschen und musizieren, es brennen Räucherstäbchen, es wird drumherum den Göttern gehuldigt, Händler verkaufen vor dem Eingang praktische Sets mit allerlei Zeug drin, die am Stück gekauft und genauso am Stück auch geopfert werden können.
Im Haus eines Onkels (glaube ich?) ist außerdem ein besonderer Altar, der einem Großvater aus der Familie gewidmet ist. Es gibt wahnsinnig viele Götter, und auch die verstorbenen Ahnen sind Teil der Hierarchie im Himmel, sodass man zu ihnen beten kann. Jeder Gott hat seine Aufgabe und seinen Platz in der Hierarchie, wenn man etwas Bestimmtes möchte, ist es also gut, den richtigen Gott anzurufen, sodass das Gebet nicht in der Bürokratie des Himmels verloren geht. Natürlich sollte man nicht mit jedem unwichtigen Wunsch einen hoch gestellten Gott belästigen, und ein gutes Wort vom Opa da oben hilft bestimmt auch. Ein Bild von ihm steht auf dem Altar.
Das klingt abgefahren, aber so richtig frei von solchen Dingen ist der christliche Glaube ja auch nicht, mit all den heiligen, seligen und wasauchimmerfür Menschen, die wir zwar niemals Götter nennen, zu denen aber auch manchmal Leute beten, irgendwie, aber irgendwie ja doch zu Gott, und eigentlich braucht man einen Theologen, um zu erklären, wieso wir nur den einen Gott haben, aber doch Jesus verehren und die heilige Jungfrau Maria in Not rufen, die Dorffeuerwehr ihren Lieblingsheiligen auf das Haus malt, und überhaupt. Wenn ich mich mit Indern über so etwas ernsthaft unterhalte, sind all diese verrückten Sachen plötzlich doch nicht mehr viel verrückter als bei uns.
Das Abendessen ist wieder bei Sanmati zu Hause, außerdem ist da schon das Bild von der nächsten Frau, die sich bald vorstellen wird. Zugegeben, das ist wirklich abgefahren.
Am Dienstag schließlich (gute Güte, der Eintrag wird lang) steht kein Familienmitglied mehr auf dem Plan. Das ist gut so, denn mein Magen mag mich heute nicht. Ich habe mich gestern irgendwie überfressen und habe den Tag über keinen Hunger und mein Bauch blubbert und verhält sich komisch. Nach dem Checkout im Tempelgästehaus läuft uns noch der spirituelle nackte Mann über den Weg. Er schenkt uns zum Abschied noch ein gerahmtes Foto von sich.
Wir fahren mit dem Auto zu einem
berühmten Fort, etwa 400km weit weg. Ich nutze unterwegs jedes verfügbare Klo aus. Ganz schön nervig. Länder mit fies dreckigen Sanitäranlagen sind ja leider oft auch Länder mit häufigen Verdauungsproblemen. Diese Korrelation ist natürlich und leicht zu erklären, aber wird dadurch nicht weniger stressig. Und nein, die indischen Klos mag ich immer noch nicht. Und die Eimer-Hand-Methode auch nicht. Inzwischen ist auch das Klopapier alle. Na toll.
Gegen Mittag geht es zum Glück wieder. In einem Restaurant am Expressway gibt es ein westliches Klo (die lustige Bauart, bei der man zwar eine Schüssel hat, der Rand der Schüssel aber so breit ausgeführt ist, dass man sich trotzdem noch obenauf hinhocken kann, wenn man denn unbedingt hocken will), während meines Aufenthaltes sterben viele Mücken einen gewaltsamen Tod. Danach sind meine Probleme verschwunden, d.h. das Essen gestern war wohl nicht verunreinigt (hätte mich auch gewundert, es war immerhin in der Familie), und es waren nur etwas viele Linsen im Spiel.
Weiter geht es, über den Expressway. Auch so können Straßen in Indien aussehen! Vier Spuren, tadellos in Schuss, und nur alle paar Kilometer mal eine Kuh, der man ausweichen muss. Die Straße ist mautpflichtig.
Zur Regenzeit unterwegs im Wüstenstaat Rajasthan.
Da kommt einem auch schonmal ein lustiger Mann mit rotem Turban und vielen Schafen entgegen.
Wir haben an Bord die nette Nichte von Sanmati, die Ingenieurin werden will (sie heißt Parul), und noch jemanden (Bruder war es nicht, vielleicht Neffe, irgendsowas), beide wollen zum College, das liegt ganz in der Nähe von dem Fort, was wir dann besichtigen wollen, und einem Tempel, in dem Sanmati noch beten möchte, bevor er nach Bahrein fährt. Sehr effizient, wir erschlagen viele Fliegen mit einer Fahrt. Wir kippen also die zwei im College ab. Parul hat mich noch drum gebeten mitzuspielen, sie will sich einen Spaß machen und mich ihren Freundinnen als ihren neuen Freund vorstellen. Ich mache mit. Ganz lustig, es scheint geklappt zu haben.
Im Fort sind so alte Gebäude, die ein indischer Herrscher mal hat bauen lassen. Lange her. Geschichte kann man sich im
Wikipedia-Artikel anschauen, wenn man will.
Nur ein Wildschwein. Trotzdem interessant. Oink.
Sanmati mit, ähm, ich glaube Bruder. So viele Leute in den letzten Tagen, ich habe keinen Überblick. Der Herr rechts ist unser Fremdenführer im Fort. Sanmati hat es geschafft, dass wir nur den Eintrittspreis für Inder (Rs 5) zahlen, nicht den für Ausländer (Rs 100). Dafür braucht man unsere indischen Studentenausweise und viel Verhandlungsgeschick. Der Führer wird dann auch billig, und ist nichtmal uninteressant.
Und Ausblick hat man auch, ist ja auf einem Hügel.
Affe vor Sonnenuntergang. In Echt (oder mit einer guten Kamera) sieht das aus wie in einem Disney-Film. Schon fast kitschig, das Bild.
Ich mag es trotzdem.
Nach dem Fort fahren wir zu einem Tempel, in dem Sanmati quasi "Schulden" hat: Er hat in eben jenem Tempel, der sehr mächtig sein soll, um etwas gebeten, was dann auch eingetreten ist. Er hat damals dem Gott versprochen, im Falle der Wunscherfüllung wieder zurückzukehren, das tut er hiermit. Der Tempel ist sehr berühmt, zu bestimmten Festen pilgern hier an einem Tag 500.000 Menschen hin, erhalten Speis und Trank, beten und feiern. Heute ist nicht so viel los, der Tempel selbst ist trotzdem voll. Es ist unglaublich laut, es wird getrommelt und geklatscht, Diskolautstärke, gute und ausgelassene Stimmung. Alles bunt. Und irgendwo mittendrin liegt ein Kind auf dem Boden und schläft seelenruhig vor sich hin. Die Inder sind unglaublich.
Nach dem Besuch des Tempels kehren wir in der Nähe in einem Restaurant ein, welches bei mir sehr gemischte Gefühle hinterlässt. Es ist weithin berühmt für das gute Essen, welches aber sehr bodenständig, günstig und auch für den einfachsten Lastwagenfahrer am Highway bezahlbar angeboten wird. Das Ambiente ist dementsprechend sehr einfach gehalten, es sieht aus wie eine Lagerhalle. Das Essen schmeckt tatsächlich gut, wahrscheinlich kostet es so gut wie nichts (die Rechnung bekommen wir natürlich wieder nicht zu Gesicht) und scheint auch sauber gewesen zu sein, ich hatte keine Beschwerden. Das Klo war allerdings das widerlichste, welches ich bisher in meinem Leben benutzt habe, es gab danach keine Seife (vermutlich auch für die Bediensteten nicht), und es gibt wieder die leckeren Roggenbrötchen. Die sind wirklich lecker, außen schön knusprig, innen schön weich, tolle Soße dazu. Der besondere Service: Der Kellner zerdrückt es mit seiner Hand auf dem Teller des Gastes und zerreibt es mit seinen Fingern zu kleinen Krümeln, sodass es mehr Soße aufnehmen kann. Wie nett.
Aber lecker wars trotzdem. Und ich bin wieder hundemüde. Die Reizüberflutung der letzten Tage schlaucht.
Der Fahrer bringt uns sicher zu einem weiteren Haus, welches der Familie gehört und in der Nähe des Bahnhofs ist. Wir kommen mitten in der Nacht an.
Der Fahrer rangiert in mehreren Zügen von der Zufahrtstraße (hinten quer vor der Mauer) in die Einfahrt, um uns auch die letzten Meter zu ersparen.
Von hier geht es am Mittwoch Morgen wieder los zum Bahnhof von Kota. Wir frühstücken im Auto leckere kleine Gebäckkügelchen, die vor allem mit Koriander, aber auch ein paar anderen gemüsigen Sachen gefüllt sind. Sanmati hat sie in einem Restaurant gekauft, sie kommen wie fast alle Snacks in Indien eingewickelt in einem Stück gewöhnlichen Zeitungspapier (wer die Zeitung wohl mal gelesen hat?), so hat man nach dem Essen noch einen Fetzen Lesestoff. Boulevardnachrichten über Heidi Klum, und ein Artikel, warum man im Ausland (also außerhalb von Indien) ständig mit Verdauungsproblemen zu kämpfen hat: Es fehlen dort einfach die Gewürze, die für den Verdauungstrakt so wichtig sind und wertvolle Mineralien enthalten. Soso.
Unser Zug kommt bei der Abfahrt etwa 40 Minuten zu spät, wir warten so lange im Upper-Class-Aufenthaltsraum, denn da werden wir nicht von Kindern angebettelt. Eine alte Frau feudelt den Raum mit einem Wischmob etwas sauber und braucht danach von irgendeinem Wartenden eine Unterschrift, die bestätigt, dass sie ihre Arbeit getan hat. Sie läuft von einem Menschen zum Nächsten, bis sich Sanmati schließlich erbarmt und unterschreibt. Ich stelle mir das gerade in der DB Comfort Lounge in Frankfurt HBF vor, eigentlich ganz lustig.
Mittags besteigen wir den Zug in Richtung Mumbai. Abfahrt gegen 12, Ankunft morgens um 4.
Ein kleiner Einschub, er passt gerade thematisch nirgendwo besser rein:
Überall in den Städten liegt in Indien Müll. Mumbai ist besonders schlimm. Ich habe mich mit Sanmati darüber unterhalten, ihm ist die Problematik auch bewusst. So richtig aber erst, nachdem er auf dem IIT Campus eine müllfreie Umgebung kennen gelernt hat, vorher war der Dreck einfach selbstverständlich. Sogar einen Polizisten beobachten wir auf dem Bahnhof, der einfach so Müll auf den Bahnsteig fallen lässt. Sanmati ist genauso verwundert wie ich und auch ein Stück weit wütend. Die Inder tuen sich hier Schlimmes an, es könnte sauber alles so viel schöner sein. Sanmati selbst sehe ich übrigens alles immer brav bis zum nächsten Mülleimer tragen (der lässt in Indien aber oft den ganzen Tag auf sich warten, auch an öffentlichen Plätzen!), ich werde mir daran ein Beispiel nehmen und wieder zu europäischen Gewohnheiten zurückkehren, nachdem auch bei uns die Sitten in den letzten Monaten etwas erodiert sind...
So. Zurück zum Thema, Zug nach Mumbai.
Im Speisewagen kann man allerlei Köstlichkeiten für fast kein Geld bestellen.
Der freundliche Mann in der Küche bereitet sie dann frisch zu.
An Bord kann man auch fast jederzeit Tee, Kaffee, Mangosaft und Wasser kaufen, das ganze wird von einem Bahnbediensteten in festen Zeitintervallen angeboten. In den unteren Klassen bricht bei jedem Bahnhof der Schwall von externen Verkäufern zur Tür rein, sodass jeder Versucht, lauter als der andere sein Wasser an den Mann zu bringen. Dagegen ist die fast zurückhaltende Art des offiziellen Verkäufers eine Wohltat.
Wir kommen mit Sanmati auf das Wasser zu sprechen. Als Tourist ist man angehalten, stets beim Kauf das Siegel zu überprüfen, da ein gebrochenes Siegel bedeutet, dass die Flasche vom Händler mit Leitungswasser nachgefüllt wurde, welches für die verwöhnten westlichen Immunsysteme ja ein großes Problem ist. Deshalb steht auf den Flaschen auch, man solle sie nach der Benutzung zerdrücken, um illegale Benutzung zu verhindern.
Die andere Seite der Medaille ist nun aber die: ärmere indische Reisende in den niederen Klassen wollen oft gar kein teures Leitungswasser, sondern kaufen ganz bewusst im Zug das abgefüllte Leitungswasser. Wenn einem westlichen Tourist also eine wiederaufgefüllte Flasche angeboten wird, muss das nicht in böswilliger Absicht geschehen: Der Verkäufer versteht vielleicht gar nicht, warum der westliche Tourist kein Leitungswasser trinken will, und bietet ihm deshalb das billigere Wasser an. Wenn der Tourist weiß, dass die Flasche Wasser für diesen Preis nur nachgefüllt sein kann, gibt es damit auch kein Problem.
Aber weiß der Tourist das? Also hier nochmal zum Mitschreiben: Eine Originalflasche kostet 12 Rupien oder mehr, alles darunter ist Leitungswasser.
Ich schaue weiterhin lieber auf das Siegel.
Bei Ankunft ist der Zug 40 Minuten zu früh. Sanmati sieht zufällig aus dem Fenster (nachts um 4, wohlgemerkt. Arne und ich schlafen tief und fest) und sieht, dass unser Zug schon im Bahnhof steht. Wir steigen hastig aus, bevor der Zug weiter fährt. Knapp.
Vor dem Bahnhof erlebt Sanmati etwas ganz Neues. Wir sind bei ihm, und auf einmal sind die Rikschafahrer nicht mehr kooperativ. Den Weg zum Bushof bekommt er von ihnen nicht heraus, und den Preis kann man mit blonden Touristen im Schlepptau auch nicht mehr auf ein Niveau drücken, das er gewöhnt ist. Wir würden schon bezahlen, sagt man ihm (auf Hindi). 700 Rupien soll die Fahrt anfangs kosten, ein paar Straßen und eine halbe Stunde später finden wir einen Fahrer, der uns für 250 mitnimmt. Nach Hause, leider nicht ins Bett. Denn: In meinem Zimmer wartet bereits Besuch.